Definition(en)

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Re: Definition(en)

Beitragvon Mela » 13.06.2011 17:17

Ja, Hugo, da bin ich ganz bei Dir.
Ich finde es auch in keiner Weise abwertend, ein "Modell" auch als solches zu bezeichnen - ganze andere Wissenschaftszweige stützen sich auf Modelle bzw. deren Berechnung.

Ich hatte die Anmerkung ja damals vor allem in die Runde geworfen, weil ich glaube, je ernster wir selbst unsere Definitionen nehmen, desto ernster werden wir in der Wissenschaft genommen.
(Mir als Archäologin mit experimenteller Ader ist das natürlich durchaus wichtig, dass meine Arbeit wissenschaftlich ernst genommen wird)

Liebe Grüsse

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Re: Definition(en)

Beitragvon hugo » 13.06.2011 17:55

Danke für die Unterstützung.
Als ich 1982 mit der Lehrveranstaltung "experimentelle Archäologie" in Wien begann, war mir klar, dass es eine Gratwanderung zwischen Bastelkurs und Wissenschaft werden würde. Nur die fehlende Veränderung seither frustriert mich. Es hat sich zwischenzeitlich eine Menge getan. Die Grenzen zur Wissenschaft sind aber noch immer verschwommen.
Letztes Wochenende kam mir bei einer Runde im Helgoländer Oberland bei Ansicht des Heisenberggedenksteins wieder der Modellbegriff in den Sinn.
Leider greift man in der Eventkultur noch immer auf die Billigstbieter zurück, um sie dann marktschreierisch als wissentschaftliche Innovation zu verkaufen. Das erinnert mich irgendwie an die "Dr. Best-Werbung", in der auch der weisse Mantel die Wissenschaftlichkeit suggeriert.
Genug des Gesuderes, als unbelehrbarer Optimist warte ich noch immer auf positve Veränderung und Diskussion des Modellbegriffs.
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Re: Definition(en)

Beitragvon hugo » 13.06.2011 18:34

Da ich schon am Thema bin, kann ich Colin Renfrew nicht verschweigen, der den Modellbegriff wesentlich abstrakter in die Archäologie einführte und mich auch inspirierte. Das macht die Diskussion vielleicht noch spannender, vor allem weil ich Renfrew für einen Vertreter der "New Archeolgy" halte.
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Re: Definition(en)

Beitragvon ulfr » 29.01.2013 12:08

Die Dänen haben offenbar eine neue Definition archäologischer Experimente vorgenommen. In diesem Artikel über Schmiedeversuche

http://videnskab.dk/kultur-samfund/arka ... tiden-frem

wird unterschieden in:

Naturvidenskabelige, kontrollerede forsøg. De minder om de små eksperimenter, vi husker fra fysikundervisningen i folkeskolen. Arkæologen opstiller et forsøg, der for eksempel skal fastslå, hvilket materiale et særligt øksehoved er lavet af. Den slags forsøg kan gentages af hvem som helst, hvor som helst, og resultatet vil blive det samme.


"Naturwissenschaftliche, kontrollierte Versuche. Sie erinnern an die kleinen Experimente, die wir aus dem Physikunterricht kennen. Archäologen führen einen Versuch durch, der z.B. feststellen soll, aus welchem Material eine Beilklinge hergestellt wurde. Diese Art Versuch kann überall und von jedem durchgeführt werden, das Resultat wird immer dasselbe sein."
(Also unsere klassische Definition eines wissenschaftlichen Versuches)

Humanistiske, kontekstuelle forsøg. Det er forsøg, hvor menneskets krop og psyke bliver inddraget i eksperimentet. Det er nødvendigt, hvis arkæologen for eksempel vil vide, hvordan fortidens mennesker rent faktisk brugte deres økser. Så giver arkæologen rigtige mennesker den opgave at bruge de gamle økser. På den måde kan man finde ud af, hvilke typer økser et menneske mener passer bedst til at fælde træer med, og hvilke der sandsynligvis mest var til pynt.


"Humanistische, kontextuelle Versuche. Das sind Versuche, bei denen Körper und Psyche des Menschen in das Experiment mit einbezogen werden. Das ist nötig, wenn Archäologen z.B. wissen wollen, wie die Menschen der Vorzeit ihre Beile rein faktisch benutzten. Also stellen Archäologen echten Menschen die Aufgabe, die alten Beile zu benutzen. Auf diese Weise kann man herausfinden, welche Beiltypen nach Meinung des Probanden besser dafür geeignet sind, Bäume zu fällen, und welche wahrscheinlich eher zur Zierde waren."


Während wir doch eigentlich nur erstere Kategorie als ernstzunehmend und objektiv bezeichnen und letztere gern näher zum Nicht-messbaren, Subjektiven, ja Esoterischen zählen, interessiert man sich in Dänemark offenbar auch vermehrt für das "Gefühlte" und lässt beides gelten. Ein Paradigmenwechsel? Und evtl. nicht nur bei den nördlichen Nachbarn, sondern auch hier? Bei einer universitären Veranstaltung im vergangenen Dezember zur ExpArch wurde ich von den akademischen Gastgebern wiederholt gefragt, ob ich all das, was mir bei meinen bisherigen Versuchen und Rekonstruktionen aufgefallen/vorgekommen ist, auch notiert hätte. Als ich verneinte und die Überzeugung vertrat, dass subjektive persönliche Erkenntnise und Erfahrungen eben nicht messbar und damit auch wissenschaftlich nicht interessant seien, war mein Gegenüber sehr betrübt, ja fast entsetzt und meinte, damit würde ich meinen reichen Erfahrungsschatz der Wissenschaft vorenthalten...

Seitdem denke ich immer wieder darüber nach
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Re: Definition(en)

Beitragvon XorX » 29.01.2013 13:36

Erkenntnisse und Erfahrungen sind sicher nicht naturwissenschaftlich meß- und damit streng wissenschaftlich nutzbar, ABER durchaus interessant und interpretierbar, wenn einzelne Erfahrungen zu einer Materie von verschiedenen Leuten gebündelt und dann in ihrer Masse als Erkenntnisquelle genutzt werden. Quasi wie bei einer Umfrage
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Re: Definition(en)

Beitragvon Skulpteur » 29.01.2013 15:34

Ich habe diesen Beitrag nachträglich editiert:

Ulfr,

ich finde das sehr bemerkenswert, was die Dänen tun.

Ich werfe mal in eigenen Worten ein, was keine neue Erkentniss ist:

Ohne emotionalen Hintergrund keine Erkentniss, kein Erkennen, kein Durchdringen und schließlich Durchschauen. Ohne emotionalen Hintergrund auch gar keine Fragen.

Wissenschaft kann meiner Meinung nach heute auch wahrgenommen werden als Versuch eines streng nachvollziehenden segmentierten Vermessens dessen, was eigentlich und ursprünglich aus einem ganzheitlichen Kontext stammt.

Die Dänen gehen meiner Meinung nach mit gutem Vorbild voran. :18:

Herzliche Grüße,

Vinzenz

:rhino:
Zuletzt geändert von Skulpteur am 30.01.2013 16:05, insgesamt 3-mal geändert.
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Re: Definition(en)

Beitragvon Hans T. » 29.01.2013 16:28

Ulf, wenn man beide Aspekte in der Experimentbeschreibung trennt, wären subjektive Aspekte durchaus wertvoll. Man muss sie nur entsprechend bewerten. Natürlich bleibt Vorsicht angesagt und dies ist sicherlich kein Freibrief für Fantastereien oder pseudowissenschaftliche Erklärungsansätze.

http://de.wikipedia.org/wiki/Oral_History

Auch hier gibts entsprechende Kriterien. Ich weiss, dass der Vergleich hinkt, den hier geht es nun ja wirklich um echte Zeitzeugen. Aber Subjektivität ist sehr wohl dokumentationswürtig.

H
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Re: Definition(en)

Beitragvon FlintSource » 02.02.2013 21:20

Und hier gerade frisch in academia.edu eingestellt eine Rezension von Eszter Banffy über einen skandinavischen Band: http://www.academia.edu/2486131/How_does_Scandinavian_experimental_archaeology_look_from_the_outside_Ark.Forum_27_Nov._2012. Und jetzt fangen nicht gleich alle new und processual archaeologists (wozu ich mich unbedingt auch rechne) auf die post-prozessualen Kollegen herumzuhacken. Schließt sehr gut bei Ulfrs Post an, auch ich hätte das betrübte Gegenüber sein können: Es geht einfach zu viel Wissen verloren weil die Ergebnisse als 'soft' eingestuft werden. Auch wenn ein Ergebnis nicht 100% quantifizierbar ist, kann es doch wertvoll sein.
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Re: Definition(en)

Beitragvon ulfr » 03.02.2013 11:35

Danke, Flintsource, für den link.
Allerdings muss ich mal wieder jemanden bemühen, der bei Fratzebuch ist, um die Rezi herunterladen zu können - ich finde dieses Verfahren ziemlich ärgerlich, warum muss ich mich bei einem kommerziellen "sozialen" Netzwerk anmelden, um einen wissenschaftlichen Beitrag lesen zu können ...
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Re: Definition(en)

Beitragvon hugo » 03.02.2013 12:03

Hab Dir den Artikel als PDF an Deine mail-Adressen geschickt.

lG
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Re: Definition(en)

Beitragvon LS » 03.02.2013 21:23

@Ulfr,
bei Academia.edu kannst Du Dich anmelden, ohne bei FB zu sein, es gibt beide Möglichkeiten.

Grüße, L.
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