Geschoßspitzen des Neandertalers

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Geschoßspitzen des Neandertalers

Beitragvon Blattspitze » 26.08.2010 07:49

Hinsichtlich möglicher Speer- / Lanzenspitzen des Neandertalers herrscht meines Wissens derzeit eine verwirrende Situation.

Die älteren ca. 300-340.000 Jahre alten einteiligen Speere des Homo Erectus aus Schöningen zeigen konisch geschnitzte Spitzen aus dem vollen Holz des Wurzel – nahen Bereiches.
Bild


Die ebenfalls einteilige ca. 120.000 Jahre alte Eibenholzlanze aus Lehringen zeigt ebenfalls eine konisch geschnitzte Holzspitze, allerdings aus dem zur Krone hin orientierten Stammbereich.
Bild

Derartige einfachste Lanzen und Speere dürfen also vorausgesetzt werden.
Inwieweit jedoch Stein-, Knochen- und Geweihspitzen verwendet wurden, erscheint verwirrend. Allerdings ist „das“ Mittelpaläolithikum auch eine lange Zeit mit Warm- und Kaltphasen und einem Kulturwandel, der abseits der Steinartefakte schwer fassbar ist.

Im nahen Osten wurde in Um el Tell ein mögliches Bruchstück einer Levallois-Spitze in einem Wildesel – Halswirbel gefunden, seitdem gibt es unterschiedliche Meinungen zur Frequenz und Nutzung von Levallois-Spitzen als Projektilspitzen, wobei nach Gebrauchsspurenanalysen häufig eher eine Messerfunktion beschrieben wird.
Aus dem Inde-Tal im Rheinland berichtet A. Pawlik von einem kleinen symmetrischen spitzen Abschlag, der Schäftungskittreste aufweisen könnte.

Es gibt als Waffenspitzen interpretierte Knochenspitzen aus Süddeutschland (Abb. 3; Nr. 1):
http://www.urgeschichte.uni-tuebingen.d ... rd2006.pdf

Und diese einzigartige und hochinteressante „geflügelte“ Spitze aus Salzgitter-Lebenstedt in Norddeutschland
(Andreas Pastoors, 6. Artikel "Blades? ..." von oben, dort Abb. 3):
http://www.neanderthal.de/de/kontakte/m ... 4d25e3Aber ist diese Knochenspitze auch eine Speer- oder/und Lanzenspitze? Was meint Ihr?
Gruß Marquardt
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Beitragvon Thomas Trauner » 26.08.2010 08:26

Schwierig. Geht mir auch schon lang im Kopf herum. Aufgrund der uneindeutigen Quellenlage habe ich mich auch nur für einen reinen Holzspeer als Jagdwaffe für den NHG-Neanderthaler entschieden. Dabei bin ich den Maßen eines der Schöninger Speere gefolgt.
Siehe: http://www.naturhistorischesmuseumnuern ... sprache=de

Dass dort die Spitze aus dem der Wurzel zugeneigten Ende geschnitzt wurde, also aus dem dickeren Bereich des Stämmchens, ist völlig logisch, da der Speer damit seinen Schwerpunkt im vorderen Drittel hat und deshalb ein sehr gutes ballistisches Verhalten zeigt. Die Lanze fliegt nicht, da kann ich die Spitze aus dem sich verjüngenden Teil schnitzen.

Zur eigentlichen Frage:
Dass der H.N. Kompositgeräte fertigte, steht m.E. außer Frage. Birkenpech (mit Fingerabdruck) liegt vor.

Zu den in Frage kommenden Artefakten:
Grundsätzlich ja. Obwohl ich trotzdem geistiges Bauchweh damit habe. Außer der zweiflügeligen Spitze könnten die anderen Knochenartefakte aber auch einfach an eine Handhabe geschäftet sein, um z.b. als „Hautnickel“ zum Abziehen des Fells des Jagdtieres verwendet zu werden. Das würde auch zwanglos die relativ „runden“ Spitzen und „Schneiden“ erklären.
Bei der zweiflügeligen Spitze stört mich die Größe, für einen Speer kommt sie mir recht klein vor. Die gesamte Waffe währe wohl ein wenig zu leicht, um, rein aus der Hand geworfen, genug Auftreffwucht zu haben.

Die Spitze im nahöstlichen Esel macht mir mehr Sorgen.
Einfach, weil ich es nicht schaffe, mein Gehirn felsenfest davon zu überzeugen, dass der Esel wirklich von einem H.N. und nicht von einem H.S.S. erlegt wurde. Ich habe da das Problem der Steintechnik des H.S.S. vorm europäischen Aurignacien.....

Zu einer sicheren Aussage reicht´s mir nicht. Ich bin da vielleicht auch ein wenig Bedenkenträger.

Deshalb: Experiment.

Rätselnd in Nürnberg.
Thomas
Thomas Trauner
 

Beitragvon Blattspitze » 26.08.2010 10:24

Netter HSN, der da bei Euch steht.

Die Größe der Salzgitter-L.-Spitze halte ich für eine Speer - Nutzung für ok. Eine wichtige Variable ist die zu verdrängende Querschnittfläche der Spitze, und die ist trotz der geringen Länge im Vergleich zu jungpaläolithischen Spitzen nicht grade klein.

Ich frage mich jedoch, ob für dieses Objekt nicht vielleicht eine ganz andere Funktion in Frage kommen könnte?

Bezüglich der "Lanze" von Lehringen könnte ich gerne demonstrieren, dass sie vorzüglich im anzunehmenden Entfernungs-Bereich bis/um 8m als kontrolliert direkt geworfener Speer einsetzbar ist.

Experiment wäre spannend.

Umm el Tell: Interessanter Hinweis, ich muss nochmal gucken ...
M
Edit:
https://lirias.kuleuven.be/bitstream/12 ... ts2009.pdf
Nach diesem Artikel über Artefakte aus der Sesselfelsgrotte werden von der Gebrauchsspuren-Fraktion sogar mopsige Keilmesser (dort Fig. 19) als "Waffenspitzen" angenommen. Dieser Interpretation mag ich gar nicht folgen.
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Beitragvon ulfr » 26.08.2010 11:28

Es gibt noch mindestens zwei Knochenspitzen aus den jüngsten Mittelpal-Schichten (Horizont VI) der Vogelherdhöhle, allerdings sind sie nicht zweifelsfrei dem HN oder HSS zuzuordnen:

http://www.urgeschichte.uni-tuebingen.d ... php?id=214
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