"Haben sich Neandertaler geschminkt?"

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Beitragvon ulfr » 02.06.2008 11:05

D. Henry-Gambier vom CNRS schreibt im Tagungsband "Das Aurignacien und die Anfänge die Kunst in Europa", Aurignac 2007, in seinem Beitrag "Die Besiedlung Europas im Aurignacien":

Die verlässlichsten aurignacienzeitlichen Menschenreste, bei denen eine taxonomische Bestimmung möglich ist, gehören sämtlich anatomisch modernen Menschen an. Wenn der HSS ab ca. 36.000 - 34.000 in Europa belegt ist, sagt dies nicht, dass er der einzige Träger des Aurignacien sein müsse, insbesondere nicht für seine ältesten Phasen. Es sei denn, man betreibt einen kulturellen Determinismus unter Ausschluss der anthropologischen Analyse. In gleicher Weise ist zu hinterfragen, inwieweit der HN der einzige Träger der so genannten Übergangsindustrien ist.

Die Unterschiede beispielsweise in den Kunstäußerungen zum Mousterien bzw. Chatelperronien sind indes so gravierend, dass die These einer Urheberschaft des HN schon außerordentlich gewagt wäre. Sicher ist es statthaft, dem Neandertaler viel mehr "Kultur" zuzutrauen als noch vor 100 oder 50 Jahren, aber ein Figuren schnitzender oder Höhlen bemalender Neandertaler ginge mir denn doch zu weit, das geben die Funde und Befunde nicht her, auch wenn ich kein Wissenschaftler bin und nur die Entwicklung in der arch. Forschung aufmerksam verfolge. Aber Henry-Gambier schreibt auch:

Die Geschichte der ersten Besiedlung Europas zu Beginn des Jungpaläolithikums zu entwirren, heißt Notwendigkeit neuer Entdeckungen, es heißt aber auch, eine kritische Revision der schon bestehenden Dokumente mit neuen Methoden vorzunehmen

ULFR

Edit: was mir gerade noch zum eigentlichen Thema des Threads einfällt: Manganoxid ist giftig und ruft Halluzinationen hervor, das wurde im Zusammenhang mit der eventuellen Herkunft der paläolithischen Höhlenmalereien durch Schamanen in Trance diskutiert. Betörnte Neandertaler?
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Beitragvon Mark77 » 02.06.2008 17:09

ja danke, ulfr!
den artikel wollt ich eigentlich auch zitieren, hat ihn aber grad nicht zu hand!
danke :neandi:
Mark77
 

Beitragvon ulfr » 02.06.2008 20:00

Mark77, meinst Du den übers Aurignacien oder den übers rauschige Manganoxid? Das steht in
Lorblanchet, M. (1997): Höhlenmalerei

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Beitragvon Mark77 » 03.06.2008 01:26

Meinte den Artikel von Henry-Gambier aus dem Tagungsband zum Aurignacien von Floss.
Hab das Buch ja leider nicht selbst, musste also von zu Hause aus schzreibend auf das Zitat verzichten :heul:
Mark77
 

Beitragvon Peter N. » 03.06.2008 20:48

z. Teil freigeschaltete Artikel über die "Entwicklung der Hominiden":

http://www.spektrumdirekt.de/hominiden


P.
Peter N.
 

Beitragvon hunasiensis » 05.06.2008 22:33

ulfr schrieb:
Die Unterschiede beispielsweise in den Kunstäußerungen zum Mousterien bzw. Chatelperronien sind indes so gravierend, dass die These einer Urheberschaft des HN schon außerordentlich gewagt wäre. Sicher ist es statthaft, dem Neandertaler viel mehr "Kultur" zuzutrauen als noch vor 100 oder 50 Jahren, aber ein Figuren schnitzender oder Höhlen bemalender Neandertaler ginge mir denn doch zu weit, das geben die Funde und Befunde nicht her, auch wenn ich kein Wissenschaftler bin und nur die Entwicklung in der arch. Forschung aufmerksam verfolge.



Wo sind die Vorläuferkulturen des Hss für das "Kunst"phänomen, das sich im Aurignacien so plötzlich äußert? Stimmt, genauso wenig da, wie bei Hsn. Aber trotzdem ist für Dich Hss der Macher.

Warum schreibe ich "Kunst" in Anführungszeichen?. Ohne hier den Kunstbegriff ins Spiel zu bringen, müssen wir uns fragen, was wir denn wirklich sehen. Es wurden einfache Symbole dargestellt und natürlich die Fauna mal mehr und mal weniger lebensecht dargestellt, was sicher eine große Fertigkeit erforderte. Uns gefällt das, das ist gutes Kunsthandwerk; wenn jemand das Talent dazu hat, kann er mit den nötigen Mitteln die Tiere seiner Umwelt sicher gut malen und schnitzen.

Worauf ich hinaus will, ist, dass der Sprung zur Kunst möglicherweise gar kein so großer war, wie ihn so manche hinstellen. Will man nicht die Big Bang- Hypothese vertreten sondern von einer graduellen Entwicklung ausgehen, ist es durchaus vorstellbar, dass es eine lange Phase des Übens mit Skizzen im Sand oder an Schnitzereien in Holz gab, die natürlich nicht mehr erhalten sind.

Dessen und der spärlichen Fundlage eingedenk brauchen wir weder einen besonders überlegenen Hss noch einen ausnahmsweise besonders intelligenten Neandertaler, um die Phänomene des Aurignacien hypothetisch zu erklären.

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Beitragvon ulfr » 05.06.2008 23:43

Lieber Arne,
ich gebe Dir völlig recht, anstelle des Big Bang wird es wohl eher eine Abfolge von Einzelzündungen gewesen sein, so wie man einen dänischen Kutter mit Einzylinder-Glühkopf-Motor in Flensburg schon wahrnimmt, wenn er um die Birk herumfährt, erst leise, dann immer lauter und zum Schluss unüberhörbar. Allerdings ist "Kunst" relativ und immer im Kontext mit der Zeit zu sehen, in der sie entsteht. Heute würde das Vogelherdpferdchen wahrscheinlich in jedem Grundschulwerkunterricht als "na, das hast du aber schön gemacht" durchgehen, vor 36.000 Jahren jedoch war das revolutionär, denn es gibt keine Vorläufer, richtig, zumindest haben wir sie noch nicht gefunden oder sie sind vergangen, trotzdem bleibt der Vorgang des Darstellens der Umwelt für die damalige Zeit innovativ.

Was wir haben, sind Steingeräte, und ich (als Praktiker, der das Pferdle schon mal mit Flintwerkzeug geschnitzt hat, das sei hier mit Verlaub vermerkt) kann mir schwer vorstellen, mit mousterienzeitlichen Kratzern und Abschlägen derart feine Arbeiten auszuführen. Ohne Stichel kommt man da nicht weit. Und die Ursprünge der Lamellen-Technologie liegen im vorderen Orient im Ahmarien, die Produktion von Klingen und feineren Werkzeugen wird allgemein erst mit dem Aurigncien verbunden.
Ich gebe zu, der Beginn des Jungpaläolithikums ist momentan genauso unklar wie die Frage, wer denn nun der Urheber war, und ich bevorzuge den HSS mehr aufgrund einer subjektiven, eher "gefühlten" Einschätzung als die Art, mit der die Geschichte weiterging. Solange die Fundlage, vor allem was die menschlichen Fossilien vor 40.000 angeht, noch so dürftig ist, kann man mit einigem Recht verschiedene Szenarien entwerfen und sich fragen, ob nicht vielleicht doch der HN plötzlich in kurzer Folge sehr viele umwerfende Geistesblitze hatte und ob nicht gar am Ende der HSS alles von ihm abgeguckt hat oder ob beide vielleicht einträchtig am Feuer gehockt und alles gemeinsam ausgeheckt haben. Die meist vorsichtigen und konjunktivischen Äußerungen vieler Wissenschaftler sagen mir, dass man auch dort "nix genaues nich weiß", deshalb meine subjektive Meinung.
Dass Du HSN schreibst, also Homo SAPIENS Neanderthalensis, sagt mir, dass Du ihn nicht als eigenständige Art ansiehst, sondern als Unterart, und da bin ich wiederum auf Deiner Seite, denn dumpfbackige Troglodyten waren die sicher nicht. Aber warum hat er dann seine Höhlen nicht schon eher bemalt, Gelegenheit hätte er doch genug gehabt?

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Beitragvon Thomas Trauner » 06.06.2008 10:07

Mir geht ein Beitrag jetzt länger im Kopf rum. Ich befürchte, dass es diesmal nicht wirklich richtig hinkriege, aber ich probiers mal.

Die Diskussion über die Urheberschaft der bislang beobachteten frühesten Kunst ging doch erst richtig los, als sich das im Vogelherd befindliche HSS-Skelett als neolithisch herausstellte.
Gleichzeitig ändert sich das Bild des HN (ich denke, er ist eine eigene Art, halte ihn jedoch nicht für einen Dumpfbacken).

So - wir haben einen Tatort. Eine Kinokarte von Hr. Weiß macht ihn verdächtig. Dann stellt sich heraus, dass der Film so spät lief, dass Hr. Weis nicht aufgrund dieser Karte als Täter überführt werden kann.
Grundsätzlich ist der Fall dann wieder offen, auch Hr.Neumann kommt jetzt in Frage, weil er sich in der Gegend herumtrieb.
Völlig richtig.
Jetzt brauchen wir Indizien.
Hr. Weiß hat aktenkundig mehrere Male die gleiche Tat begangen, allerdings erst nach dem fraglichen Fall. Hr. Neumann ist nicht aktenkundig.
Hr. Weißverfügt nachweislich über das für die Tat notwendige Abstraktionsvermögen, Hr. Neumann ist zwar nicht gerade ein Neandertaler, hat aber nachweislich Probleme mit seinen Vorderhirnlappen, die erblich bedingt, nicht die selbe Kapazität aufweisen wie die von Herrn Weiß.
Eigentlich vefügt auch nur Hr. Weiß über das entsprechende Tatwerkzeug, Hr. Neumann könnte sich aber auch Zugang verschafft haben.
Kennen sich Hr. Weiß und Hr. Neumann so, dass hier ein Austausch erfolgen konnte ? Die Tatortsicherung kann jetzt aber nirgends eine wirklich gleichzeitige Anwesenheit beider Herren an einem bestimmten Ort feststellen. Bislang kann nur ein sich zeitlich abwechselnder Besuch eines bestimmten Ortes nachgewiesen werden. (z.b. Kino Hohler Fels, allerdings besuchte Hr. Neumann die Frühvorstellung, nachmittags dann Hr. Weiß Hr. Neumann wieder die Frühabend- und Hr. Weiß die bislang letzte Nachtvorstellung).
Gerüchte, dass sich Hr. Neumann bevorzugt die Kinderfilme, Herr Weiß jedoch nur französische Filme der siebziger in Originalfassung ansieht, bleiben Gerüchte.

Also - meine Damen und Herren Geschworenen:
Hr. Weiß ist mehrfach mit der selben Tat schon in Erscheinung getreten, demnach beherrscht er alle dafür notwendigen Fähigkeiten. Allerdings wäre dies dann seine erste Tat. Motiv ? Die Idee. Wie alt die Idee ist, kann nicht nachgewiesen werden, der Nachweis taucht zwangsläufig erst mit der Ersttat selbst auf.
Selbst wenn diese für ihn frühe Tat nicht seine gewesen wäre, stellt sich die selbe Frage dann bei der nächsten. Auch hier müßte dann erneut die Frage nach dem "Woher" geklärt werden.

Hr. Neumann Möglichkeiten sind eingeschränkter, er war bislang tatunauffällig, es fehlt demnach jeder Beweis, dass er dazu fähig war, seine Anwesenheit am Tatort ist nicht belegbar.

Gegen wen soll weiterermittelt werden ?

Ernsthaft.
Der Beleg Vogelherdhöhle (Bestattung) ist wirklich zusammengebrochen. Jetzt müssen wir mit Indizien arbeiten.
Und da ist m.E. die Anzahl der Theorien, die wir brauchen um den HSS als Verursacher zu sehen, wesentlich niedriger als die, die wir brauchen, um den HN verantwortlich zu machen.
Ausserdem ist mir die immer wieder eingeforderte graduelle Entwicklung von Kulturausdruck höchst suspekt. Irgendwann ist es halt einfach mal die erste Beobachtung. Selbst wenn HSS in Afrika schon Hinweise geliefert hätte, würde dann nicht doch wieder jemand den H.E. mit ins Spiel bringen ? Und- was soll sich denn um Himmels willen im Hirn des HSS geändert haben ?
Mir ist einfach jeder Gedanke an eine "evolutionäre" Entwicklung der Kultur höchst suspekt. Er bleibt ein Gedanke, dessen Nachweis nicht geführt werden muss, um die vorliegenden Fakten zu erklären. Demnach halte ich eine Beweisführung mit diesem Gedanken für obsolet.

Thomas
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Beitragvon Turms Kreutzfeldt » 06.06.2008 10:28

eine "evolutionäre" Entwicklung der Kultur
ist seit Entdeckung von Chauvet ohnehin gegessen. Richtig.
Saludos, El Turms
Ich bin der Schleuderer, der stets aufschreit und das mit Recht, denn alles was nicht schleudert, ist wert das es auch untergeht, so ist denn alles, was ihr Schleudern nennt, mein eigentliches Element...
nach Hildegunst von Mythenmetz, Erinnerungen
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Beitragvon ulfr » 06.06.2008 11:08

*"Mehr kann ich Euch..." - "...erst nach der Autopsie sagen, ich weiß" :? *

Heuer wird im Lonetal wieder gegraben, auch im Hohle Fels, bin ich mal gespannt... Das Tal lohnt übrigens immer einen Besuch, man kann wunderbar von einer Höhle zur andern wandern und zwischendurch in der Lindenau einkehren, lecker...

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Beitragvon hunasiensis » 06.06.2008 16:01

Turms und Thomas,

von evolutionärer Kulturentwicklung habe zumindest ich nicht gesprochen, da die Evolutionstheorie nur auf biologische Vorgänge angewandt werden kann.

Die Anwendung auf den kulturellen Bereich führt ihr wisst schon wohin.

Dagegen sehe ich auch bei der kulturellen Entwicklung einen graduellen Prozess und lasse mich durch lückenhafte Befunde nicht zum Big Bang - Anhänger bekehren.


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Szeletien?

Beitragvon denali » 06.06.2008 18:05

Als alter Erlanger würde ich in dem Falle noch gerne das Prä-Solutreen bzw. das Szeletien mit in's Spiel bringen ... nicht das es da schon Kunst gab - meines Wissens, aber das steht ja anthropologisch betrachtet auf ebenfalls wackligen Beine .... Menschenreste meines Wissens Fehlanzeige. Wir hätten also grob geschätzt einen Zeitrahmen von 20'000 Jahren in dem absolut unklar ist wer mit welchen Werkzeugen spielen darf. Die Forschungslage ist meines Wissens in diesem Rahmen ähnlich mies wie im Chatelperronien .... die Blattspitzen sind jedenfalls bemerkenswert und wer sowas wie die Artefakte aus Ranis hinkriegt sollte auch ein Mammut schnitzen können .... egal ob HSS oder HSN ..... schieben wir's doch einfach auf den Forschungsstand und warten die nächsten 250 Jahre ab :-)
denali
 

Beitragvon Blattspitze » 08.06.2008 16:56

Hey Denali,
ich würde auch HN die Herstellung von Blattspitzen zutrauen. Gibts nicht in Blattspitzengruppen/Szeletien - Fundzusammenhängen eindeutige HN-Zähne? (Wobei natürlich unklar und der Phantasie überlassen bleibt, wie diese in den Schichtzusammenhang gelangten). Traditionell schlagen deutsche Archäologen die Szeletien-Funde eher HN zu, während die osteuropäischen diese HSS zutrauen.
Marquardt

"... und ich könnte Euch noch tausend Gründe nennen, wenn ich nur welche wüsste." (Otto)
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Szeletien

Beitragvon denali » 10.06.2008 14:36

Klaro trau ich HSN solche Blattspitzen zu :-) zumal ich da weiter im Osten welche kenne die verflucht Micoquekeilen ähneln, sowohl in der Retouche als auch durch den Umriss .......
daher hat die HSN Theorie für die Blattspitzenkulturen durchaus was für sich
denali
 

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